Autor: Markus Frutig | Geschäftsführer Inoveris 

«Das Zukunftslager muss sich neu orientieren»

Von 30. bis 31. März 2022 findet nun in der BERNEXPO wieder der nationale Branchentreffpunkt LOGISTICS & AUTOMATION 2022 mit dem Sonderfeature TRANSPORT & DELIVERY statt. 85 Aussteller und Speditionen aus der ganzen Schweiz zeigen ihre Angebotspalette und präsentieren auch neueste Lösungen für den Gütertransport und für die Intralogistik. Im ILS-Roundtable-Gespräch zum Thema «Wie sieht das Warenlager der Zukunft aus?» gibt Massimiliano D’Amore, Sales & Business Development der R. Wick AG, aktuelle Einblicke in die Herausforderungen für die Intralogistikbranche.

Thema «Digitalisierung & Technologie»

Die Ansprüche an die Lagerlogistik sind in den letzten Jahren gestiegen: Der Online-Handel verzeichnet stetig Zuwächse, und die Verbraucher erwarten eine schnelle und reibungslose Warenlieferung – oftmals weltweit. Auch im B2B-Bereich müssen Bestellungen immer schneller abgewickelt werden. Um mit der Konkurrenz mitzuhalten, ist eine effiziente, kostengünstige und fehlerfreie Lagerlogistik deshalb enorm wichtig. Demnach bilden digitale Prozesse innerhalb des Lagers einen wichtigen Baustein für eine zukunftsfähige Unternehmensstrategie. Doch auch schon heute existieren zahlreiche Möglichkeiten für eine digitale Prozessoptimierung innerhalb des Lagers.

Herr D’Amore, welche Vorteile sehen Sie in der Entwicklung der Digitalisierung von Warenlagern? Und welchen Einfluss hat diese auf die Effizienz in der Abwicklung von Warenlieferungen oder Personalbedarf?

Massimiliano D’Amore: Die Digitalisierung schafft eine erhöhte Transparenz, das heisst, man weiss zu jedem Zeitpunkt, wo etwas zu finden ist, und dies wiederum ermöglicht schlanke Prozesse in der Intralogistik. Die Mitarbeitenden wissen, wo sie was finden, und können zielgerichtet Ware rüsten, kommissionieren und dann für den weiteren Transport aufbereiten.

Welche innovativen Technologien werden bereits standardmässig beim Neubau eines Warenlagers umgesetzt? Welche sind nicht mehr wegzudenken? Wie sehen Sie die Stabilität und die Widerstandsfähigkeit dieser Systeme gegen Hackerangriffe?
Bei uns kommen in der Konzeption von neuen Systemen und Anlagen vor allem visuelle Technologien zum Zuge – sprich: Der digitale Zwilling wird zuerst auf einer Gaming-Plattform erstellt, wo man schon vor der Realisierung virtuell die Prozesse analysieren und verbessern kann. Man kann dann auch über Explosionszeichnungen in die Maschine bzw. Anlage virtuell hineinschauen und prüfen, ob es zu Kollisionen kommt oder ob man im Servicefall überall hinkommt, um eine Reparatur durchzuführen oder einen Stillstand wieder zum Laufen zu bringen. Der Kunde weiss von Anfang an ziemlich genau, in was er investiert.

Bezüglich Hackerangriffen ist es so, dass diese uns meilenweit voraus sind. Es gibt heute stabile und industrietaugliche Sicherheitssysteme. Unsere Anlagen und Roboterzellen sind in der Regel autark, im laufenden Betrieb nicht mit dem Internet verbunden und somit von aussen nicht angreifbar. Nur wenn wir Fernzugriffe tätigen, schaltet der Kunde in der Regel den Zugang frei. Das sind aber auch dann sichere Kanäle, die üblicherweise für die Hackerwelt nicht sichtbar sind.

Wie beschäftigen Sie sich mit dem aktuellen Thema Verfügbarkeit und Lieferprobleme – und stellen Sie sich jetzt in Ihrem Unternehmen dazu auf?
Für mich stellt sich die Frage, ob wir zukünftig überhaupt noch Lager benötigen. Es kann ja durchaus sein, dass ich mir einen digitalen Zwilling eines Produkts kaufe, das Produkt selber aber vor Ort produziere, zum Beispiel unter Verwendung von 3D-Druck-Technologien. Das ist sowohl für Kunststoffe als auch für Metalle schon verfügbar. Das heisst, eine Lagerfläche wird dann nicht mehr benötigt. Ich kaufe ja nur digitale Ware und wandle sie bei mir ohne Zwischenlage in ein Produkt um. Deshalb würde ich diese Frage mit «Ja» beantworten. Wir kommen nicht an eine Kapazitätsgrenze – das Zukunftslager muss sich neu orientieren und beispielsweise genügend Rohstoffe zur Verfügung stellen.

Wo sehen Sie bestimmte Trends, oder wo geht es hin in der Intralogistik?
Diesbezüglich gibt es interessante Trends. Es bilden sich ja vor allem in Grossstädten sogenannte «15-Minuten-Cluster», wo zum Beispiel ein Quartier und dessen Bewohner alles innerhalb einer Viertelstunde einkaufen, beschaffen und besorgen können. Das heisst, das erfordert auch wieder eine andere Logistik drum herum und auch innerhalb eines Clusters. Das bedeutet, der Mensch wird wieder aufgefordert, zur Ware zu gehen und sich diese nicht liefern zu lassen. Es gibt doch schon auch interessante neuere Ansätze, die natürlich einen grossen Einfluss haben werden auf die zukünftigen Lager: unter anderem Ideen von «fliegenden Lagern», die dann über solche Städte kreisen und die Ware bedarfsgerecht abliefern. Irgendwann werden sich auch Drohnen durchsetzen. Die Technologie ist heute schon vorhanden und erprobt – je länger, desto intelligenter, sodass man sie auch wirklich nutzen kann. Ich sehe die Drohnenlieferung heute insbesondere für kritische Waren als sinnvoll, beispielsweise Krankenhäuser, die von externen Laboren schnell ein Resultat geliefert haben müssen. Ich schicke die Drohne ins Labor, und das Resultat wird mir in kürzester Frist digital übermittelt, ohne dass ich vor Ort eine eigene Logistik oder sogar ein kostenintensives Labor betreiben muss. Damit wird unter anderem auch der Nahverkehr entlastet. Da sehe ich einen ganz konkreten, sehr wichtigen Nutzen. Aber für mich als Privatperson weniger – zwischendurch aufstehen und zehn Minuten an die frische Luft, um sich die Pizza selbst zu holen, wäre doch auch was Schönes.

Ist besonders für die Schweiz als KMU-Land die Umstellung auf die neuen Technologien und Prozesse eine grosse Herausforderung? Sind kleinere Betriebe überhaupt in der Lage, dem wachsenden Nachfragedruck standzuhalten?
Ich persönlich würde sagen, dass die Schweizer KMU-Landschaft, insbesondere die produzierende Industrie, in Automation und Digitalisierung investieren muss, um zu überleben. So, wie wir es heute machen, ist das mittelfristig nicht mehr finanzierbar. Es kann sich keiner mehr leisten, dass ein Staplerfahrer den ganzen Tag nur die Palette von A nach B bewegt, dann wieder zurück und wieder zur nächsten Maschine. Solche Prozesse gilt es effizienter, intelligenter und smarter zu gestalten. Es ist nicht mehr die Frage, ob ich es mir leisten kann, sondern wie schnell ich es umsetzen kann, um die Arbeitsplätze zu sichern. Ohne diese Investitionen ist der Werkplatz Schweiz bald nicht mehr attraktiv.

Wenn Sie sich das ideale Warenlager der Zukunft vorstellen, wie würde das aussehen?
Wenn ich ein bisschen weiter in die Zukunft blicke, dann ist ein solches Lager dunkel, und es werden sich keine Menschen mehr darin bewegen. Es wird intelligent sein, sich selbst organisieren, selbstständig und bedarfsgerecht Ware nachbestellen und sich ohne menschliche Hilfe instand halten und reparieren. Ausserdem wird es selbstlernend und autark in der Energieaufbereitung sein, sprich ökologisch und nachhaltig. Das sogenannte «Intelligent Dark Warehouse» wird eine Realität sein, die wir vielleicht nicht mehr erleben werden.

Ist dies die ideale Zukunft, ein Warenlager ohne Menschen? Entstehen dadurch neue Berufsfelder? Und was geschieht mit den bestehenden Berufsbildern innerhalb der Logistikindustrie?
Das Lager ohne Menschen wird es geben, es wird von sich aus die Ware bestellen, die die Kundschaft abruft. Es wird sich wie gesagt mithilfe von Robotern auch selbst reparieren. Die Berufsfelder werden sich ändern; es geht in Richtung Künstliche Intelligenz, Augmented bzw. Virtual Reality. Es gibt aus meiner Sicht auch einige Berufe ausserhalb der Logistik, die sich anpassen müssen. Wie zum Beispiel ein Industrieplaner oder Architekt. Diese denken heute fast ausschliesslich in Hüllen und Design, nicht in Waren- und Menschenflüssen. Bei einem Neubau müssen zuerst die Fragen «Wie bewegen sich die Mitarbeitenden im Unternehmen, wie sieht ein effizienter Herstellungsprozess und der dazu passende verschwendungsfreie Warenfluss aus?» beantwortet werden. Erst dann werden Designfragen behandelt. Des Weiteren müssen auch Logistikplaner anfangen umzudenken, insbesondere ökologischer und autarker zu handeln und zu planen. Die Digitalisierung und Themen wie Künstliche Intelligenz, kollaborative und humanoide Robotik, Virtual Reality usw. zwingen uns dazu, neu zu denken und uns neues Wissen anzueignen. Da sehe ich einen grossen Nachholbedarf für ganz viele Berufsbilder ausserhalb der eigentlichen Logistik wie zum Beispiel IT, Cyber-Security, Blockchain und vieles mehr.

Thema «Instandhaltung & Sicherheit»

Lagerlogistik 4.0 ist ein wichtiger Baustein innerhalb der Logistik 4.0, und es wäre für Unternehmen fatal, den Einstieg in das digitale Warenlager zu verschlafen. Digitale Technologie beschleunigt Prozesse, sorgt für Kostenersparnisse und eine geringere Fehlerquote: Aspekte, die in Zukunft unerlässlich sein werden, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

Liegt die neue Fehlerquote nicht mehr beim Menschen, sondern in einer unzureichenden Instandhaltung der neuen digitalen Technologien und Prozesse?
Ich denke, die Fehlerquote liegt auf beiden Seiten sowohl beim Menschen als auch bei der Maschine. Der Mensch ist mit der Komplexität neuer Systeme oft überfordert, insbesondere auch durch die ständige und kurzfristige Erneuerung dieser Systeme. Auf der anderen Seite ist es so, dass die heutigen Mechaniken ja nicht mehr wie früher für 25 Jahre Lebensdauer gebaut und konzipiert sind. Ich würde nicht sagen, dass die unzureichende Instandhaltung ein Thema ist, sondern dass auch unsere Wegwerfgesellschaft dazu geführt hat, dass bei der Entwicklung von Produkten die Langlebigkeit kaum noch Priorität hat, denn man wirft es ja sowieso weg. Es bedarf diesbezüglich eines Paradigmenwechsels. Digitale Systeme müssen ebenfalls gewartet werden, und da ist auch der technologische Trend extrem rasant. Heute werden Gigabytes pro Sekunde an Daten generiert und gespeichert. Und da kann dann natürlich auch ein System überfordert werden mit diesen Datenmengen. Die Frage ist letztendlich immer: Was mache ich aus all diesen Daten? Brauche ich denn überhaupt so viele Daten? Sind die Daten sinnvoll verwertbar? Oder generiere ich laufend nur sogenannte Datenfriedhöfe? Das ist zu 80 Prozent auf dieser Welt der Fall. Wichtige Fragen bei der Datenerfassung, Datensicherung und Datenaufbereitung sind: Was machst du am Ende des Tages mit diesen Daten? Wie viel Information ist sinnvoll? Was für einen Nutzen generierst du aus diesen Daten? Erst danach gehe ich hin und sammle genau zu diesen relevanten Daten die richtigen Antworten. Dadurch können Systeme auf das Wesentliche und Sinnvolle reduziert werden.

Wie sieht eine fachgerechte Instandhaltung der Zukunft aus? Welche Rolle spielt hier noch der Mensch?

Der Begriff Predictive Maintenance ist ja schon seit Jahren in aller Munde. Tatsache ist natürlich, dass die heutige Technologie in der Lage ist, sich selbst den Puls zu messen und zu sagen: Ich werde vermutlich morgen dann nicht mehr funktionieren. Also bitte tausch mich aus. Das heisst, man versucht, die Downtime eines Systems dadurch zu reduzieren. Diese Elemente, die dann aussteigen werden, müssen heutzutage noch vom Menschen ersetzt werden. Das heisst, der zukünftige Wartungstechniker wird mehr und mehr auch zum Datenanalyst. Er muss die vielen Systeminformationen analysieren und interpretieren und daraus die geeigneten Massnahmen ableiten. Ich denke, die Schwierigkeit ist heute, dass in vielen Berufen die Praxisnähe fehlt. Also einen Motor zu berühren und zu spüren, dass er gestern nicht so warm war wie heute, das können nicht mehr alle oder nur noch die alte Garde.

Thema «Zukunft»

Das Schwerpunktthema der LOGISTICS & AUTOMATION lautet «The Future of Logistics»: Wie sehen Sie die Zukunft der Intralogistik in der Schweiz? Wo sehen Sie mögliche Herausforderungen und Chancen?

Ich denke, die Zukunft der Logistik benötigt einen höheren Automationsgrad. Die Schweizer Industrie hat in diesem Bereich ein grosses Nachholpotenzial. Wir sehen aktuell folgenden technologischen Megatrend: Systeme werden flexibler, das heisst, statische Installationen wie Förderbänder werden durch mobile autonome Roboter ersetzt. Das Hand-in-Hand-Arbeiten zwischen Mensch und Maschine setzt sich dank kollaborativen Robotern mehr und mehr durch, der Einsatz von Exoskeletten zur Entlastung von Mitarbeitenden wird vielerorts erprobt, und humanoide Roboter fahren im Lager herum, rüsten meinen Auftrag, packen ihn ein und laden ihn zum Schluss in mein selbstfahrendes Auto. Die grösste Herausforderung sehe ich in der Entsorgung bzw. im Recycling. Auch da muss der Automationsgrad erhöht werden, um die Abfallmenge zu bewältigen. All diese Themen bieten interessante Berufs- und Entwicklungschancen.

Besten Dank für das Gespräch.

in Kooperation mit ASTAG und INOVERIS

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Jürgen Wirtz

Chefredakteur Schaltschrankbau

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